Funk-Amateur-Club Basel

 
Das vergessene Genie (Teil I)

von © Matthias Brudermann, HB9TPN
 
 
Die Weltgeschichte ist voll von Genies, und auch von vergessenen Genies.
 
So bin ich die letzten Tage über den Namen Oliver Heaviside gestolpert, welchen ich schon gehört hatte, aber nicht konkret einem physikalischen Phänomen, einer Formel oder einer physikalischen Einheit zuweisen konnte. Der Name liess mich, wie ein Ohrwurm, nicht mehr los und ich begab mich in die unendlichen Weiten des weltumspannenden Spinnennetzes (auch World Wide Web genannt). Und plötzlich viel mir der Zusammenhang von Herrn Heaviside mit der Physik, der Elektrotechnik und der Mathematik wieder ein.
 
Oliver Heaviside wurde 1850 in London, im heutigen Hipster Quartier Camden Town, geboren und erkrankte im frühen Kindesalter an Scharlach, was eine teilweise Schwerhörigkeit mit sich zog. Heaviside war ein sehr begabter Schüler und obwohl er zu den besten seines Jahrganges zählte (heute würde man hochbegabt dazu sagen), nahmen ihn seine Eltern im Alter von 16 Jahren, wohl aus Mangel an Geld, von der Schule. Oliver führte sein Studium autodidaktisch fort, konnte jedoch keinen offiziellen Schulabschluss erlangen.
 
Oliver Heavisides berühmter Onkel Sir Charles Wheatstone (ja, der mit der Wheatstone’sche Messbrücke) sandte ihn 1867 nach Newcastle-upon-Tyne (ja die Stadt, wo Mark Knopfler von Dire Straits und DER Sting geboren und aufgewachsen sind), um ihn als Telegraphist ausbilden zu lassen. Heaviside arbeitete als Telegraphen Operator bei der «Danish Great Northern Telegraph Company», studierte aber immer weiter an mathematischen Problemen und Fragestellungen. Im Speziellen war er von Maxwells Formeln zur Beschreibung der Phänomene des Elektromagnetismus angetan. Er musste sich jedoch die mathematischen Kenntnisse weiterhin als Autodidakt aneignen, um die komplexen Maxwellschen Beschreibungen im Detail zu verstehen.
 
1874 gab Oliver Heaviside seinen Beruf als Telegraphist auf und zog zu seinen Eltern nach London, um sich ganz seinen Studien zu widmen. Dabei entwickelte Heaviside seine eigenen mathematischen Methoden und veröffentliche regelmässig seine Erkenntnisse in Fachzeitschriften. So führte er zum Beispiel die bereits seit Euler und Gauss bekannten komplexen Zahlen in die Elektrotechnik ein. Die damals neue Notation mit dem Buchstaben «j», was theoretisch die Quadratwurzel von -1 darstellt, hat heute noch seine Gültigkeit. Mit «j» werden in der Regel in der Elektrotechnik und Signaltheorie phasenverschobene Signale (Spannungen, Ströme) und komplexe Impedanzen beschrieben, was den Umgang mit komplexen Einheiten, wie z.B. das Addieren oder Subtrahieren von Reaktanzen, ungemein vereinfacht (zumindest hilft es mir sehr). 
 
In der Mathematik ist der Name Heaviside eng verknüpft mit der Schrittfunktion H(x). Einfach ausgedrückt ist diese Funktion eine mathematische Beschreibung eines Systems, welches auf einen (elektrischen) Schritt von 0 auf 1 im Zeitpunkt t=0s antwortet (Schrittantwort). Hätten wir diese Möglichkeit der Beschreibung von Systemen nicht, wären wir heute noch in der Telekommunikationssteinzeit und die Beschreibung von SDR-Filter wären Wunschträume.
Zudem geht die berühmte Telegraphen Gleichung auf die von Oliver Heaviside weiter geführte Betrachtung der Maxwellschen Gleichungen zurück. Heaviside beschreibt damit die Verteilung von Spannung und Strom, bzw. die Verteilung von Induktivität und Kapazität auf einer zu kommunikationszwecken verwendeten Zweidrahtleitung und damit ist er auch der Vater des Koaxialkabels.
 
Der adelige Funker Pionier, Guglielmo Marconi, Sohn einer Whiskey Dynastie und reicher Bonvivant schaffte es am 12. Dezember 1901 als erster, seine Funkwellen über den Atlantik zu übertragen. Obwohl Marconi einen Nobelpreis für Physik erhielt, schaffte er es nicht, plausibel zu erklären, weshalb die Funkwellen den Sichthorizont überwanden und den erdgekrümmten Atlantik überqueren konnten. Oliver Heaviside war es im Jahre 1902, welcher die Ionisierung der ca. 90 km bis 130 km über der Erde liegenden E-Schicht als erstes Beschrieb und damit die Reflexion (Skip) von Radiowellen begründen konnte. Die E-Schicht wird heute auch als Heaviside Schicht bezeichnet und wurde 1924 erstmals auch praktisch nachgewiesen.
 
Oliver Heaviside galt zeitlebens als kauzig, verschroben und exzentrisch. Diese Eigenschaften waren es wohl auch, weshalb er seine zahlreichen Erfindungen nicht zum Patent anmeldete und damit die Chancen seines Lebens verpasste. So passierte es, dass Mihajlo Idvorski Pupin, ein ungarisch-österreichischer Physiker, im Jahre 1894 die heute als Pupinspule bekannte Technik zum Patent anmeldete. Pupins Arbeit stütze sich auf die sieben Jahre zuvor gemachten Entdeckungen von Oliver Heaviside. Pupin verkaufte sein Patent für viel Geld an die US-amerikanische Gesellschaft AT&T.
Finanzielle Unterstützungsangebote von namhaften Kollegen und Gesellschaften lehnte Heaviside aus Stolz ab. Er korrespondierte auch regelmässig mit Heinrich Hertz (ja genau, DER Hertz) und wurde 1891 in die Royal Society gewählt, was einem akademischen Ritterschlag gleichkam. Weiter erhielt Heaviside mehrere Auszeichnungen, einen Ehrendoktortitel und er wurde 1912 für den Nobelpreis nominiert.
 
Nach dem Tod seiner Eltern zog Oliver Heaviside nach Newton Abbott und im Jahre 1909 nach Torquay in der Grafschaft Devon an die Südküste Englands. Er heiratete nie und wurde zuletzt immer exzentrischer und lebte als Einsiedler. Völlig vereinsamt und mittellos verstarb er am 3. Februar 1925 knapp 75-jährig an seinem Wohnort Torquay. Oliver Heaviside F.R.S. (Fellow of the Royal Society) liegt in der Nachbargemeinde Paignton begraben, wo man heute noch sein gepflegtes Grab besichtigen kann.
 
 Oheaviside
 
[ Bildquelle: wikipedia.org ]